Vaterbilder - Große und Kleine Männer auf Idetitätssuche
Ein Wege-Artikel von Wolfgang Bergmann
In den letzten 40 Jahren hat es eine grundsätzliche Neuorientierung im Verhältnis der Geschlechter gegeben. Über Generationen waren die Rollen von Vater und Mutter relativ eindeutig verteilt, ab den 1970er-Jahren veränderten sie sich abrupt.
Ein visionärer Artikel über das Mann sein, Vater sein des leider im Mai dieses Jahres verstorbenen Wolfgang Bergmann. Wege 2/2011.
Vaterbilder
Große und kleine Männer auf Identitätssuche
In den letzten 40 Jahren hat es eine grundsätzliche Neuorientierung im Verhältnis der Geschlechter gegeben. Über Generationen waren die Rollen von Vater und Mutter relativ eindeutig verteilt, ab den 1970er-Jahren veränderten sie sich abrupt.
Viele Mütter wollten oder mussten ihren Beruf ausüben und manche unter ihnen auch Karriere machen. Und die Väter wollten oder sollten nun nicht mehr „Herr im Haus“ sein, sondern Gleichberechtigte unter Gleichen. Nicht alle Familien halten sich heutzutage an diese neuen Orientierungen.
Trotzdem ist unübersehbar, dass viele Väter verunsichert sind und sich fragen, welche
Rolle sie denn nun zu spielen haben. Eine Unsicherheit, unter der nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Kinder leiden. Besonders die Söhne…
Die Not der Väter Moderne Väter haben’s nicht leicht. „Oberhaupt“ der Familie sollen sie nicht mehr sein – aber vielleicht doch „Beschützer“, „Lenker“, „Bewahrer“? Oder auch das nicht?… Stabile Rollenbilder gibt es in unserer Gesellschaft noch immer nicht.
Und viele Väter lösen die ihnen zugeteilten Aufgaben schlecht oder gar nicht: die einen beanspruchen an einem Tag dröhnend und polternd die alte Autorität, bekommen am nächsten Tag ein schlechtes Gewissen und spielen in der Familie den sanften versöhnlichen „Softie“ – andere wiederum verabschieden sich gleich gänzlich aus der Erziehungsverantwortung.
Kurz: Seit sich das Blatt gewendet hat, waren und sind Väter häufig instabil und ihr Verhalten oft widersprüchlich, sodass sie keine bindende und verlässliche Funktion für ihre Kinder abgeben können. So bewegen sich nicht nur viele Väter, sondern mehr noch die Kinder in einem biotisch-umhüllenden Bindung an Mama wird festgehalten.
Sie wird von beiden, dem Sohn und der Mutter, bis in die ersten Kindergartenerlebnisse und oft auch noch länger fortgesetzt:
Überängstlich wird jede Erfahrung darauf hin überprüft, ob sie den Sohn vielleicht überfordert, oder ob er Kränkungen (die sogleich mit seelischen Katastrophen verwechselt werden) ausgesetzt ist. Mama stellt sich wie eine Wand zwischen das Kind und die schwierigen, sperrigen, widerständigen Anteile der Realwelt.
Ein „präsenter Vater“ erkennt dieses Dilemma – und er kann es auch ausgleichen, indem er den Sohn vertrauensvoll an der Hand nimmt und mitnimmt, hinaus in diese gar nicht so feindselige, sondern vielmehr spannende Welt, in der es viel zu erleben, entdecken und lernen gibt. Kurzum: Väter müssen zwischen die Mütter und die Kinder treten. In ihrer Rolle des „Dritten“ sind sie aber (bewusst oder unbewusst) oft unwillkommen – was sich nicht zuletzt darin ausdrückt, dass ihnen ihre Vaterrolle nach mütterlichem Vorbild vorgeschrieben werden soll.
Ein Vater, der behutsam Buchstaben mit dem Zweijährigen ausschneidet oder sein Kleinkind wickelt, gilt fraglos als „guter Vater"… Aber das ist nicht genug. Er muss auch der Gegenentwurf zum Weiblichen, zum Versorgenden und Verwöhnenden der frühkindlichen Muttererfahrung sein – und da lassen ihn die pädagogischen Theorien und Bilder im Stich, weswegen sich moderne Väter oft in diesen fürsorglichen Sog hineinziehen lassen. Und damit sind wir bei einem zweiten Dilemma: Was gilt heute, in unserer modernen, technologisch-informationellen Gesellschaftsordnung als „männlich“?
Männliche Autorität
Jeder Vater war selbst einmal „Sohn“. Und mögen die Erinnerungen an die eigene Kindheit und die eigene Vaterbeziehung noch so zwiespältig sein, die meisten Väter spüren im Innersten ganz genau, welche Aufgabe, welche Verantwortung sie für ihre Söhne übernehmen müssen – und dass sich damit auch eine Chance für ihre eigene Entwicklung auftut. Kinder brauchen Väter, und die Jungen allemal – das steht außer Frage. Was die heutigen Kinder von ihren Vätern am allermeisten brauchen (vielleicht noch mehr als frühere Kindergenerationen), sind Stärke und Klarheit. Ja, es verlangt sie sogar nach Autorität, nach Eindeutigkeit in den väterlichen Anordnungen. Auch dies auf dem Hintergrund einer hochkomplexen, verwirrenden sozialen Wirklichkeit, die nicht mehr von stabilen Normen geprägt ist, gegen die sich die Jungen wie frühere Generationen mit Macht zur Wehr setzen können und müssen. Das Problem moderner Kinder ist nicht
(mehr) die Bekämpfung der Väter-Autorität – es ist der Mangel an guter beschützender, klarer und komplexer männlicher Autorität. Und das nicht nur in der Familie, sondern auch in der Schule und im Gesellschaftsleben:
Wo sind die professionell ausgebildeten Männer, die unseren Kindern in Kindergärten und Schulen ein zeitgemäßes männliches Vorbild abgeben? Wo sind die männlichen Freunde, Beschützer, Mentoren, die sich auf unsere Jungen einlassen und sie unterstützen? Wo sind die verantwortungsbewussten Väter, die ihre Söhne auf ihrem eigenen Weg ins Mannsein begleiten?…
Große Herausforderungen – und für die Väter ganz schön schwierig. Denn eindimensionale Identitätsbilder, die realitätstauglich sind, eindeutige Vorbilder für moderne Kinder gibt es nicht mehr. So wie die Kinder als Erwachsene nicht nur in unterschiedliche Berufe, sondern ebenso in sehr verschiedenartige soziale Verhaltensweisen und komplexe Identitäten hineinwachsen müssen, so sollten sie in ihren Vätern Klarheit und Komplexität vorfinden. Das fällt schwer genug!
Väterlich und Mütterlich
Auf der anderen Seite hört es sich komplizierter an, als es ist. Auch heute reicht für „gute Väter“, ihre Kinder von Herzen zu lieben – mal verspielt und vergnügt, manchmal lautstark, kräftig und wild zu sein – und manchmal, wenn schon der letzte Nerv angekratzt ist, in einem doch noch liebevollen Tonfall zu erklären: „Schluss jetzt!“ Kinder haben ein feines Ohr für väterliche Fürsorge und für väterliche Anmaßung – und
reagieren entsprechend.
Und noch ein Letztes: Bis in die Neurophysiologie hinein lassen sich die Unterschiede der Geschlechter gerade in den unterschiedlichen Beziehungen von Mutter und Vater zum Kind nachweisen. Es ist nicht die Aufhebung, sondern die Verwebung der Differenz der Geschlechter, der Kreislauf zwischen dem Männlichen und Weiblichen, dem Mütterlichen und Väterlichen, welcher das Kind am meisten stärkt. Fließt beides ineinander, dann erschließt es seine Welt, dann erwirbt es Stück um Stück die Erfahrbarkeit der Weltdinge, erwirbtsein Körper-Selbst inmitten von Zeit und Raum, greift und begreift das Bauklötzchen und andere Objekte und benennt sie, staunend und beglückt, mit immer bewussteren Lauten, die zur Sprache reifen. Muttersprache UND Vatersprache. Dann ist jedes Kind ein glückliches Kind.
Nachruf - Infos - Literatur
Wolfgang Bergmann
geb. 1944, ist am 18. Mai 2011 – während unserer
Arbeit an dieser WEGE – in einem Hospiz bei Hannover
seinem Knochenkrebsleiden erlegen. Auch wir trauern
um den hervorragenden Pädagogen, Kinderpsychologen
und WEGE-Autor, der sich zeitlebens für die
Rechte und das Glück der zukünftigen Generationen
stark gemacht und eingesetzt hat. Danke von Herzen!
Bergmann schrieb mehrere Bücher zu psychologischen
und pädagogischen Themen. Um sein Lebenswerk über den Tod hinaus
fortzusetzen, gründete er…
- Die Initiative „Für Kinder“
Auf deren Website ist u.a. ein letzter Video-Appell von Wolfgang Bergmann
zu sehen, in dem er an die Gesellschaft appelliert, für das Wohl der Kinder und
Familien Verantwortung zu übernehmen:
www.fuerkinder.org
Weiterführende Bücher & Infos zum Thema:
- Kleine Jungs - Große Not - Wie wir ihnen Halt geben
von Wolfgang Bergmann (Beltz, 2010) - Gute Autorität - Grundsätze einer zeitgemäßen Erziehung
von Wolfgang Bergmann (Beltz, 2008) - Mein Vater, mein Freund - Das Geheimnis glücklicher Söhne
von Arno & André Stern (Zabert Sandmann Verlag, 2011) - VATERmänner - Über die Vater-Tochter-Beziehung und ihren
Einfluss auf die Partnerschaft
von Julia Onken (Verlag C.H.Beck, 2006) - Das Projekt „Väter & Söhne“
ist eine impulsgebende Initiative der „Sinn-Stiftung“ von Prof. Gerald Hüther.
Projektleiter ist André Stern.
Mehr darüber unter
www.sinn-stiftung.eu